Die Opposition in Deutschland

Carl Zuckmayer

Die Opposition in Deutschland

Gedenkrede von Carl Zuckmayer am 20. Juli 1969 im Ehrenhof der Gedenk- und Bildungsstätte Stauffenbergstraße, Berlin

Es gibt Epochen, es gibt Lebensabschnitte, in denen die Zeit stillsteht. Es gibt andere, in denen sie rennt und rast. In Kriegszeiten, in Jahren der Furcht und der Unterdrückung, in der Todeserwartung, auch im Exil, scheint die Zeit zu gerinnen.

Wie lang waren jene ersten Jahre nach dem Kriegsende, als das deutsche Volk, die Unschuldigen mit den Schuldigen, Not und Hunger litt. Dann fing die Zeit an zu fliegen, dahinzufliegen, unbekannten Dimensionen entgegen, und mit ihr flog das Vergessen.

Was damals das nackte Leben war, ist heut Geschichte, kaum noch Erinnerung. Erinnerung beginnt zu bleichen, Geschichte zu schlafen. Wir wollen sie wecken, mit dem Anruf dieses Tages.

Für die meisten, die hier versammelt sind, ist dieser Tag, der 20. Juli 1944, und was danach kam und was vorher war, so gegenwärtig, so haut- und blutnah, als wäre er gestern gewesen. Was bedeutet er, was kann und was muss er bedeuten, für die Nachgeborenen, für die Geschlechter, welche neu herangewachsen sind, für alle, die kommen werden?

Ich nehme die Antwort voraus. Er bedeutet das Wissen um eine Weltstunde, um eine welthistorische Stunde von seltenstem Rang, in der politisches Handeln und Erleiden mit der sittlichen Forderung, mit dem menschlichen Postulat des Rechtes und der Freiheit zusammenfiel.

Es war Deutschlands hartnäckigster Gegner, es war Winston Churchill, der nach dem gewonnenen Krieg, im Jahr 1946, vor dem britischen Unterhaus diese Sätze sprach: „In Deutschland lebte eine Opposition, die durch ihre Opfer und eine entnervende internationale Politik immer schwächer wurde, aber zu dem Edelsten und Größten gehört, was in der politischen Geschichte aller Völker je hervorgebracht wurde. Diese Männer kämpften ohne eine Hilfe von innen oder außen – einzig getrieben von der Unruhe ihres Gewissens. So lange sie lebten, waren sie für uns unsichtbar und unerkennbar, weil sie sich tarnen mussten. Aber an den Toten ist der Widerstand sichtbar geworden.“

Wer waren diese Männer?

Für uns, nach einem Vierteljahrhundert, steht das Memento des 20. Juli nicht nur für das Gedächtnis derer, die an diesem Tag und in seiner Folge ihr Leben geopfert haben. Es steht als ein Mahnmal für das Gedächtnis aller jener Menschen aus allen Schichten und Kreisen unseres Volkes, die in den Jahren des trügerischen Wahns, der Schreckensherrschaft und ihrer arglistigen Vernebelung, nicht aufgehört haben, der Gewalt zu widerstehen, der Niedertracht und der Lüge Trotz zu bieten, den Rechtsgedanken und die Freiheit der inneren Entscheidung höher zu achten als ihre persönliche Freiheit und ihr Leben.

Diese Menschen haben sich weder durch Verführung noch durch Bedrohung von ihrem harten Weg abbringen lassen, den sie im Finstern gehen mussten, oft wie Blinde tastend und einander nur mühsam erreichend. Sie sind ihn zu Ende gegangen, und sie haben noch im Scheitern, noch im Unterliegen, ja gerade im Scheitern und Unterliegen, ihren Auftrag vollendet.

Wer waren sie?

Wollte man ihre Namen aufzählen, so würde die Zeit einer Gedenkstunde, so würden die Stunden eines Tages, ja die Tage einer Woche nicht ausreichen. Es waren Tausende – solche, deren Namen wir kennen und ehren, solche, die ungenannt und ungekannt dahingegangen sind, und wenn in dieser Ansprache einige Namen genannt werden, so stehen sie immer für ungezählte andere mit, die gleichen Sinnes und Mutes waren. Es waren Tausende – aber es waren Tausende unter Millionen. Unter 80 Millionen. Tausende unter Millionen, aber nicht zur Gruppe gesammelt, sondern verteilt und versprengt, die meisten allein, und erst allmählich, langsam, und immer von der Entdeckung und Vernichtung bedroht, zu Kreisen zusammenfindend, zu Freundschaftskreisen, in denen einer dem andern vertrauen konnte. Damit ist bereits einer jener wahrhaft tragischen Züge gegeben, die dem deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus, von heute gesehen, einen Glanz von antiker Größe verleihen: Einsamkeit.

Für Menschen, die heute in einer veränderten Umwelt leben, für die Jüngeren, die neuen Aspekten und einer anderen Problematik konfrontiert sind, scheinen diese Männer fast ebenso schwer zu erkennen und zu verstehen zu sein wie für die große Menge von damals. Denn sie standen im Zwielicht, und in zwielichtigen Zeiten werden alle Gestalten zwielichtig, im Dämmer verwischen sich die Konturen. Viel ist über ihre Personen und ihre Motive geschrieben worden, viel Wahres, viel Falsches. Denn sie konnten sich ja nicht frei, offen und deutlich erklären, sie waren zum Flüstern, zur Verschlüsselung, zur Geheimsprache und zu einer Tarnung verurteilt, zu einer Verstellung, die manche von ihnen zwang, dem verhassten Regime in öffentlichen Posten zu dienen, nach außen hin das hässliche Stigma auf sich zu nehmen, das sie doch vom Antlitz ihres Volkes wegbrennen wollten, und sich dem Missverständnis und der Verkennung oder Verachtung auszusetzen: auch dies ein Opfer, von dessen Bitterkeit man sich heute schwer eine Vorstellung macht. Natürlich gab es solche, besonders unter den Jungen, die am Anfang noch an eine gute und reinigende Kraft in dieser proklamierten „Volksbewegung“ glaubten, die einen Satz wie „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ für ernst gemeint hielten und offensichtliche Verfehlungen wie die Judenhetze und die Gewaltanwendung gegen politische Gegner für vorübergehend und veränderbar. Es gab auch solche, wie die Geschwister Scholl und ihre Freunde in Ulm, die mit dem bewussten Ziel der Unterwanderung zur Hitlerjugend gingen, um deren Verrohung zu verhindern und ihre idealistischen Züge zu klären und aufzuwerten. Sie mussten bald erkennen, dass man den Sog der Verderbnis nicht aufhalten konnte, und begannen ihren Kampf für ein anderes Deutschland, bis der Henker ihn beendete. Gewiss gab es auch schwankende Gestalten, die so lange zu Hitler hielten, wie sein Erfolg unaufhaltsam schien, und sich erst gegen ihn wandten, als sein Absturz, und mit ihm der des Reiches, unaufhaltsam wurde.

In den Widerstandskreisen selbst jedoch gab es keine Opportunisten, und es ist unwahr, dass sie erst aktiv geworden seien, als es zu spät war. Die meisten und die bedeutendsten dieser Männer haben von Anfang an, in einer Zeit, als Hitler noch überall umjubelt wurde und ausländische Großmächte mit ihm paktierten, ihr Bestes getan, um einen Umschwung herbeizuführen und das bereits begangene Unrecht zu entlarven.

Solche Männer gab es in allen Volksschichten, den sozialistischen und den konservativen, den militärischen und den religiösen, im Adel, im Beamtentum, unter Bürgern und Arbeitern, und sogar – wenn auch viel zu wenige – an den Universitäten. Doch mag ein Professor Kurt Huber, der in München die Seele der studentischen Freiheitsbewegung war, viele traurige Geistesritter aufwiegen, wie sie damals in würdeloser Servilität das krude Braunwelsch ihres Führers akademisch zu verbrämen suchten. Ein Mann wie Generaloberst Beck, der mitten im Rausch der Aufrüstung in deutlichem Protest gegen das Unwesen und die Kriegspläne des Regimes sein Kommando niederlegte, mochte später für viele Offiziere das Charakterbeispiel setzen. Es gab den Oberbefehlshaber des Heeres, Generaloberst Werner von Fritsch, der wegen seiner oppositionellen Haltung der infamsten Verleumdung zum Opfer fiel und es besteht kaum ein Zweifel, dass er im Polenfeldzug den Tod gesucht hat. Es gab andere, die am Leben blieben, obwohl es ihnen kaum noch mehr als Verzweiflung zu bieten hatte, einzig von dem Ziel beseelt, den Widerstand bis zur äußersten Konsequenz vorzutreiben und dem Unheil Einhalt zu bieten. Es gab Offiziere wie den Generalmajor Hans Oster und seinen Freund Hans von Dohnanyi, wie Henning von Tresckow und Fabian von Schlabrendorff, wie den damaligen Hauptmann Dr. Josef Müller aus Bayern, der bei jeder Kontaktfahrt nach Rom seinen Kopf riskierte; es gab den früheren Botschafter Ulrich von Hassell, eine der nobelsten und aufrechtesten Gestalten unter denen, die für das andere Deutschland Zeugnis ablegten, es gab den früheren Diplomaten Otto Kiep, es gab den Konservativen Carl Goerdeler, der in geradezu leichtsinniger Offenheit dem „Dritten Reich“ den Kampf ansagte und seine Beziehungen zum Ausland pflegte, von dem man damals noch vergeblich Beistand erhoffte; es gab die Sozialistenführer, ich nenne nur Wilhelm Leuschner, Julius Leber, Adolf Reichwein, Carlo Mierendorff, Theo Haubach und unseren jüngst verstorbenen Freund Emil Henk – manche von diesen hätten sich ins Ausland retten können, aber sie wollten die geknebelte oder verführte deutsche Arbeiterschaft nicht im Stich lassen; jeder dieser Männer hat Lagerhaft oder Zuchthaus durchgemacht, aber selbst durch lange KZ-Jahre mit allen Demütigungen und Quälereien wurden sie nicht gebrochen und führten unter den Augen der Gestapo, jederzeit von neuer Einkerkerung und Vernichtung bedroht, ihren Kampf weiter; es gab überzeugte Kommunisten wie Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack, Adam Kuckhoff und Günther Weisenborn, die in hoffnungsloser Lage für ihre Idee kämpften; es gab evangelische Theologen der Bekennenden Kirche wie Dietrich Bonhoeffer und Propst Grüber, Martin Niemöller und Eugen Gerstenmaier, die sich niemals unter das Diktat des hitlerhörigen „Reichsbischofs“ zwingen ließen; es gab – und auch hier stehe einer für viele – den katholischen Bischof von Münster, Graf Galen, der sonntags von der Kanzel herab laut und unerschrocken seinen Protest gegen die Missachtung aller göttlichen und menschlichen Gesetze verkündete. Es gab jenen Kurt Gerstein, der sich in die beklemmende Verstrickung wagte: der SS beizutreten, um die Verbrechen ihrer Sonderkommandos aufzudecken und zu hintertreiben. Erst in der Gefangenschaft, nach dem Zusammenbruch, musste auch er das Todesopfer bringen. Es gab einen Unteroffizier Anton Schmidt. Niemand kannte seinen Namen, aber in Auschwitz wurde er zum Freund und Helfer der Todgeweihten und teilte ihr Schicksal. Und es gab Männer aus hohen Ämtern des Regimes, die – wie Johannes Popitz und Adam von Trott zu Solz – auf seinen Sturz hinwirkten und alles daran setzten, um Deutschland von seinen Henkern zu befreien, zuletzt ihr Leben.

Wir gedachten der Einsamkeit. Wer einmal in einer „Sieg-Heil“ schreienden Menschenmasse gestanden hat und nur anders dachte, hat sie erfahren. Für die, welche viele Jahre lang anders dachten und schweigen mussten, gab es eine Einsamkeit, die kaum zu ermessen ist. Und es geht, inmitten von populären Ekstasen, die wie Springbrunnen und Feuerwerk auf allen Gassen und Märkten empor zischen, um eine unpopuläre, eine einsame Tat.

Aus dieser Einsamkeit, in die jeder Andersdenkende einer großen Menge gegenüber verstoßen ist und die das Denken und Handeln zu lähmen droht, erwuchsen nun die wunderbaren Verbindungen und Gemeinschaften der Kreise. Hier blühten Bündnisse und Freundschaften auf, wie sie im offenen Dasein, im Licht eines unbedrohten Alltags, im eingesehenen Gelände kaum je gepflegt werden. Wir denken an Kreisau, an diese spontane Verbündung und fortwirkende Verbrüderung ungewöhnlicher Menschen – aus den verschiedensten Richtungen und Lagern hervorgegangen doch alle von dem gleichen Ziel beseelt, der wahren Mission der Deutschen: Gedankenfreiheit und Weltoffenheit.

Es gilt, hier der besonderen Rolle zu gedenken, die der deutsche Adel in der Widerstandsbewegung spielte, was man in anderen Ländern schwer begreifen konnte, weil man ihn dort, und besonders den preußischen Landadel, unter dem oberflächlichen und sachlich unzutreffenden Gesamtnamen „die Junker“ schematisierte, die man für eine starrköpfig unverbesserliche Gesellschaft von Militaristen, Feudalherren und Reaktionären hielt. Das traf längst nicht mehr zu. Von den Yorck und Moltke, den Schwerin und Schulenburg, den Dohna, Lehndorff und Dönhoff im Osten bis zu den Fugger und Stauffenberg im Süden des Landes waren – von einigen trüben Ausnahmen abgesehen – fast alle Namen des deutschen Geschlechter-Adels in den Reihen der Widerstandskämpfer und der Widerstandsopfer zu finden. Dies lässt sich zweifach erklären. Einmal waren viele von ihnen, der Tradition entsprechend, in den oberen Rängen und Stäben der Armee vertreten und hatten daher frühzeitig Kenntnis vom Wahnwitz der Kriegsplanung und von den Scheußlichkeiten der geheimen Führerbefehle, wie sie der Mehrzahl der Deutschen nicht zugänglich war. Zum anderen war ihre Erziehung und Überlieferung durchweg auf ein christlich-nationales Ethos gegründet, dem der Missbrauch persönlicher Macht und die Niedertracht der Volksbelügung, auch die Gemeinheit der Judenverfolgung zuinnerst fremd und widerwärtig sein musste. In vielen dieser Häuser herrschte ein ungewöhnlich hoher Bildungsstand, eine urbane Weltläufigkeit, und auch wo dies nicht der Fall war, fast immer eine strenge Auffassung von Rechtlichkeit und Verpflichtung dem Gemeinwesen gegenüber. Der Typus des schnodderigen Gardeoffiziers und arrogant-engstirnigen Landrats hatte sich in der jüngeren Generation mehr und mehr verloren und war im Grund nie die Regel gewesen. Gerade bei diesen Jüngeren, die nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs aufgewachsen waren, zeigte sich, wie am deutlichsten bei Helmuth von Moltke, die entschiedene Neigung zum Sozialismus oder wenigstens zu einer sozialen und demokratischen Gesellschaftsordnung und dementsprechend auch zu einer betont internationalen oder übernationalen Haltung. So wurden sie zu den engsten Mitarbeitern und treuesten Freunden solcher in weltpolitischer Koordinationsbegriffen denkenden und geistig höchstqualifizierten Persönlichkeiten wie Haubach und Mierendorff. Zu den mehr restaurativ und klassenmäßig autoritär eingestellten Widerstandskreisen, wie eben denen um Goerdeler, stand Moltke in ausgesprochenem Gegensatz. Jedoch herrschte Übereinstimmung darüber, dass Deutschland aus jeder Art von Igelstellung gelöst, dass es nach Osten wie nach Westen gleichermaßen aufgeschlossen und politisch, wirtschaftlich, kulturell ein Verbindungsglied statt eines Sperrdamms werden müsse.

Die Männer des deutschen Widerstands waren nicht das, was man heute „Realisten“ nennt, aber sie wussten sich jener „Kunst des Möglichen“ verpflichtet, die man als staatsmännische Weisheit bezeichnet hat. Insofern waren die zwischen den verschiedenen Kreisen vorhandenen Gegensätze oder Differenzierungen des politischen Konzepts nicht lähmend, sondern eher produktiv, also hoffnungsvoll und lebensträchtig. Es ging dabei nicht um Kompromisslösungen. Es ging diesen dem ganz Radikalen, Wurzelhaften, nämlich dem Leben oder Sterben konfrontierten Menschen um die obere Synthese, nicht um den mittleren Proporz, einer welthistorischen Dialektik. Niemand kann sagen, wie sich die hohe geistige Frequenz, die damals aufgeboten wurde, in der Realität einer Nachkriegswelt ausgewirkt hätte. Hitlers letzter und folgenschwerster Sieg war die Abschlachtung ihrer Träger. Aber der Versuch war im Gange, eine einzigartige Gelegenheit schien gegeben: statt des Parteienhaders ein Spannungsfeld zwischen verschieden gelagerten und geladenen Energien die doch eine gemeinsame Kraftquelle und gemeinsame Mitte besaßen. Denn wie auch immer die politischen Meinungen im Einzelnen auseinander gingen, in einem Grundprinzip waren sie alle verbunden: Deutschland musste wieder ein freier Rechtsstaat werden, in dem es keine Menschenverachtung, keine Rassen-, Klassen- oder Religionsverfolgung und vor dem Gesetz keine Willkür und keinen Gesinnungszwang mehr gab. Von all den erschütternden letzten Briefen oder Äußerungen der zum Tode Verurteilten beeindrucken mich am meisten die kurzen Worte des Sozialisten Wilhelm Leuschner: „Morgen werde ich gehängt. Schafft die Einheit!“

Wir sahen Männer, Deutsche, im Kampf gegen die Erniedrigung und Versklavung ihres Volkes, gegen die Weltbedrohung. Wie konnten sie diesen Kampf gegen die Gewalt führen und gewinnen, ohne selbst zur Gewalt zu greifen? Hier offenbart sich der schwere Gewissenskonflikt, in den die meisten verstrickt waren: Kann man, darf man Gewalt einsetzen, wenn man die Gewalt aus der Welt schaffen will? Ist es möglich, und ist es erlaubt, den politischen Mord zur Ultima Ratio zu erheben, um der Mordgesinnung Einhalt zu gebieten? Immer wieder wurde in den Widerstandskreisen der Attentatsgedanke verworfen und die Möglichkeit einer anderen Beseitigung des Gewalthabers und seiner Gefolgsleute erwogen. Wer aber sollte sie ausführen? Es gab keine Partei und keine Gruppe, die den dazu notwendigen Machtapparat zur Verfügung hatte. Es gab nur die Armee, die Wehrmacht. Und es wird immer wieder die Frage erhoben: Warum hat diese Armee, in der viele führende Persönlichkeiten schon längst vom Unheil des Nationalsozialismus überzeugt waren, nicht früher losgeschlagen, warum hat sie gewartet, bis der Kriegsgegner bereits vor den Grenzen stand?

Ich glaube, der unseligste Tag in unserer unseligen Geschichte war nicht der 30. Januar 1933, der Tag der „Machtergreifung“, sondern der 2. August 1934 – jener Tag, an dem der Wehrmacht, unmittelbar nach dem Tod des alten Feldmarschalls und Reichspräsidenten, durch einen fingerfertigen, raffiniert vorgeplanten Trick der Treueid auf den „Führer und Reichskanzler“ abgelistet wurde, und zwar nur wenige Wochen, nachdem dieser gleiche Mann die Freunde und Kameraden höchster Wehrmachtoffiziere, den General Kurt Schleicher und seinen Adjutanten von Bredow hatte umbringen lassen. Diese Willfährigkeit, mag sie auch aus den Umständen erklärbar sein, wird immer ein dunkler Fleck auf der Ehre des deutschen Soldatenstandes bleiben und hat sich bitter gerächt. Denn nun lastete auf seinen Angehörigen und Spitzen ein neuer Gewissenskonflikt von äußerster Problematik: der Konflikt mit dem Fahneneid. Jeder, der selbst einmal Soldat und Offizier gewesen ist, noch dazu in der alten kaiserlichen Armee, aus der doch die meisten höheren Offiziere noch stammten, weiß, was er bedeutet hat: nicht ausschließlich den Treueschwur für Kaiser und Reich, sondern den anderen: Einer für alle, alle für einen. Es ergibt sich daraus die schwer überwindliche Hemmung, notfalls mit einem Teil dieser Armee gegen einen anderen, anders gesinnten vorzugehen. Dazu kommt noch in Kriegszeiten die äußerst delikate Frage nach der Berechtigung zu Hochverrat und Landesverrat. Gewiss kann von Hochverrat nicht mehr die Rede sein, wenn der oberste Machthaber eines Volkes sein größter Verräter ist, und um ein Land vorm totalen Ruin, vorm sicheren Untergang zu bewahren, gibt es keine Bedenklichkeit in der Wahl der Mittel. Dennoch – gerade hier, in der Armee, war es von äußerster Schwierigkeit, zu einer einheitlichen Auffassung und einem gemeinsamen Handlungswillen zu kommen. Eine Armee besteht ja nicht nur aus jenen Generalen und Obersten, die durch genaue Kenntnis der verbrecherischen Vorgänge erwacht waren, sondern aus den Millionen der eigentlichen Waffenträger, die zwar nominell Befehlsempfänger sind, aber in einem Entscheidungsfall ebenso wie sie, die Offiziere, Hitler gegenüber, ihnen, ihren Kommandeuren gegenüber, den Gehorsam verweigern könnten. Ob sie das tun würden, oder einen Generalsbefehl zur Entwaffnung von SS und SD, zur Verhaftung der verantwortlichen Reichsführer blindlings befolgen, war völlig ungewiss. Das Unteroffizierskorps zum Beispiel, bekanntlich das Rückgrat einer jeden Armee, war vermutlich zu einem hohen Prozentsatz nationalsozialistisch und hitlertreu, so wie es am Ende des Ersten Weltkriegs noch durchweg nationalistisch und kaisertreu war. Warum? Hier sind kleine Leute, die nicht über den Umkreis ihres engeren Gruppenkommandos hinausschauen konnten und alle Informationen lediglich aus den offiziellen Organen des Regimes bezogen. Vor allem aber: die ihr eigenes Los, ihre materielle und gesellschaftliche Existenz, auch ihre Selbstachtung, also ihre seelische Existenz, völlig mit dem Regime, dem sie dienten, und der von ihm repräsentierten Ordnung identifizierten. Eher hätte man im Jahr 1918 Hindenburg zum Revolutionär machen können als einen sogenannten Zwölf- oder Vierzehnender, dem nach Ablauf seiner aktiven Dienstzeit eine staatliche Berufs- und spätere Rentenversorgung winkte. Dazu kam im Fall des Zweiten Weltkriegs, dass gerade dieser Volksteil, der in der Weimarer Republik zum großen Teil verarmte oder proletarisierte untere Mittelstand, durch Hitler und seine Aufrüstung am meisten gewonnen hatte. Diese Leute waren vor 1933 zum Teil arbeitslos, lebten in schierer Existenznot, waren in ihrem Selbstgefühl gedrückt und verbittert. Die Mehrzahl von ihnen konnte und wollte in Hitler und seinem Reich nur das Positive sehen, nämlich dass er ihnen, wenn auch durch eine betrügerische Ausgabenwirtschaft, die nur durch Krieg und Eroberungen zu decken war, Arbeit und Brot verschafft hatte. Für sie, also für ein großes und innerhalb einer Armee funktionell entscheidendes Potential, bedeutete ein siegreich beendeter Hitlerkrieg Sicherheit, feste Lebensstellung, Wohlstand. Dass der Sieg unerreichbar war, der Krieg bereits in seinen Anfängen verloren, der Wohlstand der Nation verschwendet und auch ihre Ehre, ihr Ansehen im vergossenen Blut ertränkt, erkannten sie nicht, und die Gerüchte über Naziverbrechen, soweit man nicht selbst Zeuge geworden war, wollte man nicht glauben: Man hielt das höchstens für Ausschreitungen unterer Parteiorgane, von denen der biedere Führer nichts wusste, und ein normaler Feldwebel stellte sich unter einem KZ nicht viel anderes vor wie einen etwas strammeren Kasernenhof mit etwas härterem Schliff.

Diese Armee war noch am 20. Juli 1944 für ihre von der Pflicht zum Umsturz überzeugten Kommandeure recht unzuverlässig, den meisten Soldaten gingen erst in der äußersten Not ihrer Heimat oder hinterm Stacheldraht der Gefangenenlager die Augen auf. Das Volk stand in seiner Mehrheit nicht hinter den Männern des Widerstands, denn es war getäuscht und betrogen; und die vielen Einzelnen, die doch in ihrem Herzen zu zweifeln begonnen hatten oder nicht mehr aufhören konnten, sich zu schämen, seit sie gesehen hatten, wie man einen benachbarten, befreundeten Juden in ihrem Städtchen misshandelt und weggeschleppt hatte; die vielen Menschen, welche nachts die verbotenen Sender hörten, die vielen Arbeiter, die mit in der Tasche geballter Faust beim Mai-Umzug hinter der Hakenkreuzfahne herschritten – diese vielen Deutschen lebten, jeder für sich, in jener undurchdringlichen Isolierschicht, wie sie die schwarze Magie des Terrors durch die Angst vorm Nächsten, der ein Parteispitzel sein könnte, errichtet. „Das Schlimmste ist vielleicht“, notierte Ulrich von Hassell nach dem blendvollen Sieg im Westen, „das furchtbare Verwüsten des deutschen Charakters, der ohnehin oft genug Neigung zu sklavenhafter Art gezeigt hat.“

Der Erfolg hatte Hitler und seinem frivolen Grundsatz „Der Sieg rechtfertigt alles“ immer wieder beigestanden, und solche Generale wie Halder und von Brauchitsch, die vor dem Westfeldzug gewarnt hatten, weil sie die Folgen, eine Weltfront gegen Deutschland, erkannten, schienen Unrecht zu bekommen. Die Toten von Stalingrad schwiegen, der überlebende Rest war in Moskau gefangen und wurde in Deutschland nicht gehört. Und das Ausland: Die gegnerischen Mächte waren nicht geneigt, den deutschen Widerstandskämpfern auch nur die geringste Hilfe oder gar Rückversicherung zu gewähren.

Das alles wussten die Männer des 20. Juli, und es kann der moralische Mut nicht hoch genug geachtet werden, mit dem sie dennoch zur Tat schritten. Es war der Mut zum Tode, denn jeder von ihnen wusste, dass es im Fall des Misslingens keine Alternative gab. Dies wussten die Generale wie Ludwig Beck, von Witzleben, Olbricht, wie Stülpnagel, Kleist und Rommel, dies wusste der zur entscheidenden Tat Ausersehene, Claus Schenk Graf von Stauffenberg.

Es ist leicht, am Misslingen dieses Aufstands Kritik zu üben, seine vielfache Verspätung, seine ungenügende Vorbereitung und Absicherung zu bemängeln. Aber wer, der lebt, könnte von sich selbst sagen, dass er unter gleichen Umständen den gleichen Mut und die gleiche Haltung aufgebracht hätte? Diese Männer wussten, dass es nur eine geringe Hoffnung gab, zu gewinnen, und dass sie dennoch wagen müssten. Sie wagten es in der größeren Hoffnung, dass ihrer Tat, auch wenn sie scheitern sollte, eine zukünftige Leuchtkraft innewohne.

Claus von Stauffenberg wusste, dass er im Fall des Misslingens der Diffamierung und Verleumdung preisgegeben war. Dies war für einen Mann von seinen hohen Ehrbegriffen schlimmer als der Tod. Wer seiner gedenkt, mag versuchen, sich in seine Seelenlage vor der Entscheidungsstunde, in der Nacht vor dem Wagnis, zu versetzen. Sicher war ihm das Gedicht von Stefan George bekannt, dessen einsam-hybrider Stern die Träume seiner Jugend durchleuchtet hat, jenes Gedicht, das den Titel trägt: „Der Täter“, und dessen zweite Strophe lautet:

„Denn morgen beim schrägen der Strahlen ist es geschehn

Was unentrinnbar in hemmenden Stunden mich peinigt

Dann werden Verfolger als Schatten hinter mir stehn

Und suchen wird mich die wahllose Menge die steinigt...“

Nun ist es geschehen, und nun ist es zu Ende.

Nun folgt nichts als das Blutopfer, der furchtbare Blutzoll, der von allen gefordert wird, auch von denen, die nicht getan, die nur gedacht haben.

Ist es umsonst gewesen?

Ich will ins Extrem gehen. Ich glaube, dass ein gütiges Geschick diesen Aufstand vorm Gelingen bewahrt hat. Die Erfolglosen und Gescheiterten stehen heute reiner und größer da, als sie nach einem geglückten Umsturz hätten erscheinen können: nicht nur rein von der Blutschuld eines möglichen Bürgerkriegs, sondern rein von der Nötigung zu demütigenden Kompromissen und Halbheiten, die sich im Fall des Gelingens nach innen und nach außen aufgedrängt hätten. Wie sich die gegnerischen Mächte im Westen und Osten zu einer erfolgreichen Widerstandsregierung gestellt hätten, ist ungewiss. Doch scheint es sicher, dass sie auch dann auf die bedingungslose Kapitulation Deutschlands nicht verzichtet hätten. Hier aber ging es und geht es ja um das Volk, um das Bewusstsein des deutschen Volkes. Dieses wäre kaum jemals überzeugt worden, kaum je zu einer Erkenntnis der Tatsachen erwacht, ohne das selbstverschuldete Ende des unheilvollen Reiches, das mit dem verlorenen Krieg über Deutschland hereinbrach. Ohne dieses Schreckensende hätte der Sturz des Regimes keine volle Glaubwürdigkeit bei der wahllosen Menge besessen, die ihm damals noch hörig war, und ein ermordeter Hitler wäre ein schwerer Ballast, eine fast untilgbare Hypothek auf dem Gebäude eines neuen Deutschlands gewesen – eines Deutschlands, auf das wir immer noch hoffen. Eines Deutschlands, wie es unsere toten Freunde gedacht und vorgebaut hatten.

Manche gingen mit der souveränen Milde und Weisheit des Sokrates in den Tod, andere mit dem schönen Stolz der schillschen Offiziere – keiner ohne Glauben, ohne Glauben an die Gerechtigkeit der Sache, für die er sein Leben hingab, Glauben an eine bessere Zukunft seines Volkes und des Menschengeschlechts, Glauben an eine höhere Macht, in der fast alle ihren letzten Trost fanden. Und in all diesen letzten Briefen derer, die eine Frau und Kinder hinterließen, erscheint eine tiefe, eine beglückte und segnende Dankbarkeit, ein echter und wahrer Herzensdank an diese Frauen, die ihnen in ihren Kämpfen und Nöten immer zur Seite gestanden hatten, und von denen die meisten ihre Männer nie mehr, oder nur noch mit gefesselten Händen, auf dem Weg vom Gerichtshof zur Todeszelle, gesehen haben. Denn in dieser Zeit hat sich die Ehe als das hohe Sakrament erwiesen, als die einzige volle Verbundenheit, welche dauert, bis der Tod sie scheidet.

Die Unruhe des Gewissens hatte den Opferweg dieser Männer bestimmt, und man vergönnte ihnen keine letzte Ruhestätte, an der wir beten können. Auf sie gilt das Schicksalswort Hölderlins: „Uns ist gegeben, an keiner Stätte zu ruhn.“

Doch gibt es ein anderes Wort des gleichen Dichters, das mir in diesem Augenblick gültig erscheint. Es lautet: „Die Zeit ist buchstabengenau und allbarmherzig.“

Buchstabengenau. Es wird alles verzeichnet, es bleibt nichts ungewogen; jegliches wird durch die Zeit in die rechte Ordnung gesetzt. Die Zeit ist allbarmherzig.

Solches Wissen war in die Seelen dieser Menschen eingesenkt, in denen es Zorn und Schmerz, Scham und Wut gab, aber niemals Hass und Rache. Denn sie liebten das Leben, sie kannten die Freude und die Schönheit, und sie liebten einander in ihrer Freundschaft mit einer eigenen, unbeschreiblichen Zartheit und männlichen Zärtlichkeit.

Es ist die Zärtlichkeit, mit der sich Büchners Danton, in der Todeszelle der Conciergerie, über den in kurzem fiebrigen Schlummer stöhnenden Camille Desmoulins beugt: „Mein Camille!“

Doch in der gleichen Szene setzt Philippeau dem Schmerz und der Verzweiflung diesen Satz entgegen: „Seid ruhig Freunde. Wir sind wie die Herbstzeitlose, welche erst nach dem Winter Samen trägt.“

Noch ist der Winter nicht vergangen, noch ist die Saat nicht erblüht. Wir aber tragen durch unsere bedrohte Gegenwart ein brennendes Vermächtnis. Wir haben eine Liebe gesehen, die sprechen wollte und spricht über den Tod hinüber.

Seid ruhig, Freunde!






Weitere Reden